Abstract |
Ziel des kriminologischen Projekts ist die Erforschung der theoretischen und empirischen Zusammenhänge zwischen Protokollierungsmethoden und richterlicher Urteilsfindung im Rahmen von Strafverfahren. Ausgehend von der Dokumentationspflicht und der spezifischen Scharnierfunktion, die Einvernahmeprotokolle einnehmen zwischen der staatsanwaltschaftlichen Untersuchung und der freien Beweiswürdigung der Richterinnen und Richter, ist das Forschungsinteresse hauptsächlich auf die Herstellung von Protokollen von Einvernahmen sowie den Umgang damit und ihre Wirkung im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung gerichtet.
In der Schweiz wird vornehmlich schriftlich protokolliert. Verschiedene Untersuchungen haben aber gezeigt, dass Schriftprotokolle mit vielen verschiedenen Mängeln behaftet sein können: Auslassungen, Ungenauigkeiten/Anpassungen, um ein widerspruchfreies, „gut lesbares“ Protokoll zu erhalten, fehlerhaften Interpretationen, den Sinn verändernden Zusammenfassungen etc. Hinzu kommt, dass die Hürde für die Gerichte relativ hoch zu sein scheint ein Einvernahmeprotokoll erstens als mangelhaft zu bewerten und ihm zweitens gar den Beweiswert aufgrund dieser Mängel ganz abzusprechen. Mangelhafte Protokollierungen verfälschen jedoch sehr leicht die Urteilsbasis massiv und können damit geradewegs zu Justizirrtümern führen. Die Bedeutung der Einvernahmeprotokolle steigt zudem, wenn beispielsweise Zeugen nicht mehr unmittelbar vom Richter gehört werden, sich dieser nur noch auf der Grundlage des Protokolls „ein Bild“ macht. Das trifft auf alle Verfahrensformen zu, die - in Abkehr vom klassisch zweigeteilten Strafverfahren hin zu vereinfachten Formen (Strafbefehlsverfahren, vereinfachte Verfahren) bzw. der generellen Durchführung von Aktenzirkulation - keine direkte richterliche Befragungsmöglichkeit vorsehen.
Das Projekt umfasst eine empirische Erhebung des Status quo der Protokollierungsweisen in sieben Kantonen (ZH, GE, BE, VD, LU, SG, BS), wie sie vor der Einführung der schweizerischen Strafprozessordnung am 1.1.2011 geherrscht haben, um Protokollstile herauszufinden. Zudem wird die Protokollierungsweise nach der Einführung der vereinheitlichten Strafprozessordnung in den Kantonen Zürich und Genf untersucht. Schliesslich erfolgt eine gesamtschweizerische Befragung von Richterinnen und Richtern zwecks Untersuchung der Auswirkungen verschiedener Protokollstile.
Im Rahmen des Projekts ist eine Dissertation entstanden mit dem Titel: Wie funktioniert beschleunigtes Recht Sprechen? Ordentliches Strafverfahren und Strafbefehlsverfahren im Vergleich (Dr. phil. des. Mirjam Stoll). Nur eine Minderheit der Verurteilungen in Straffällen wird in der Schweiz von einem Gericht ausgesprochen. In über 90% der nicht eingestellten Strafverfahren ergeht gemäss Schätzungen ein Strafbefehl. Der grossen Praxisrelevanz zum Trotz ist der Strafbefehl empirisch kaum erforscht. Hier setzt die wissenssoziologische Dissertation an, die sich vergleichend mit den Erkenntnisprozessen in Strafbefehls- und ordentlichen Strafverfahren beschäftigt hat. Anhand einer qualitativen Analyse von Deutschschweizer Strafakten wurde untersucht, was das Verfahren gewinnt, wenn es sich über eine längere Dauer erstreckt und verschiedene Stationen bis hin zur Gerichtsverhandlung durchläuft. Von besonderer Relevanz ist jedoch die Frage, unter welchen normativen und erkenntnispraktischen Voraussetzungen Straffälle überhaupt beschleunigt erledigt werden können und welche Handlungsstrategien die Strafverfolgungsbehörden dabei anwenden. Die vorliegende Arbeit lenkt die Aufmerksamkeit daher auf den Umstand, dass zum Recht Sprechen immer auch die Entscheidung gehört, wie lange die Beweiserhebung fortgesetzt und wann das Verfahren zum Abschluss gebracht werden soll.
Eine weitere Promotionsarbeit (lic. phil. Franziska Hohl Zürcher) hinterfragt die im rechtswissenschaftlichen Diskurs und in der Praxis verankerte Vorstellung, dass Einvernahmeprotokolle ein „schriftliches Abbild“ der Einvernahme sind. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt darin, wie Einvernahmeprotokolle gelesen werden. Daraus sollen Erkenntnisse über die Ordnung von Protokollen und der daran beteiligten Personen und Institutionen gewonnen werden (Arbeitstitel: Die Ordnung des Einvernahmeprotokolls. Eine soziologische Untersuchung zur Rezeption von Einvernahmeprotokollen im Strafverfahren).
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