Abstract |
Das Projekt untersucht die Wahrnehmung von Veränderung und ihre Verschriftlichung bzw. Vertextung sowie Konzeptualisierung im Hochmittelalter an Hand von Briefen, Verwaltungsschriftgut und ausgewählten theologischen, philosophischen, historiographischen und literarischen Texten. Dabei stehen nicht so sehr theologische oder historiographische eschatologische und teleologische (Fortschritts-)Konzepte im Mittelpunkt, sondern vielmehr die Wahrnehmung von Veränderung als Zustandsveränderung, als nicht-zielgerichtete Bewegung, die Reaktion auf Ungewohntes oder Nichterwartetes wie auf Kontingenzen und Zufälle, und die Möglichkeiten der begrifflichen und sprachlichen Fassung dieser Wahrnehmungen.
Ausgehend von der engen Verküpfung des modernen Fortschrittsnarrativs mit der Erzählung von der «Geburt der Moderne» im 12. Jahrhundert werden jene Autoren und Texte, die als Zeugen dieser Entwicklung aufgerufen werden, auf ihren Umgang mit Veränderung befragt, und zwar mit den Mitteln einer qualitativen Begriffsgeschichte sowie der Untersuchung narrativer Strukturen und Techniken. Eine vergleichende Analyse mit der höfischen Literatur wird die an den «klassischen» historischen Quellen gewonnen Ergebnisse ergänzen.
Um einen Quellenkorpus zu erhalten, der an einem Knotenpunkt überliefert ist, an dem sich intellektuelle, theologische, literarische und herrschaftliche Strömungen der Zeit kreuzten und eine grosse Bandbreite an unterschiedlichen Textsorten und -gattungen an einem Ort vereint, die Wahrnehmungsgeschichte also in gewisser Weise «verortbar» macht, wurden zwei Klöster für die Untersuchung und die Verortung der oben erläuterten Fragen ausgewählt: die altehrwürdige Benediktinerabtei St. Denis bei Paris mit ihrer Verbindung zum kapetingischen Königtum und das Augustinerchorherrenstift Marbach im Elsass mit seiner Verbindung sowohl zu den scholastischen Strömungen in «Frankreich» als auch zum staufischen Kaisertum und der Kanonikerreformbewegung im Reich.
In abschliessenden Überlegungen wird gefragt, ob die hochmittelalterlichen Texte Historiker*innen in und nach der Postmoderne Angebote für eine Historiographie jenseits des Fortschrittsnarrativs machen, wie z. B. Geschichte(n) in «kleinen Formen» (J. D. Müller) erzählt werden kann, ohne grössere (Erklärungs-)Zusammenhänge aus dem Blick zu verlieren. |