Abstract |
Die Tatra im Grenzgebiet von Polen und der Slowakei ist seit ihrer „Entdeckung“ im 19. Jahrhundert gesättigt mit nationaler Bedeutung wie sonst nur wenige Naturräume in Mitteleuropa. Das kleine Hochgebirge stellt eine Region vieler miteinander konkurrierender kollektiver Zuschreibungen dar: am imperialen Binnenrand gelegen, multiethnisch besiedelt, grenzüberschreitend bewirtschaftet, wurde sie zum Schauplatz von Grenzkonflikten ebenso wie von supranationaler Zusammenarbeit. Meine Leitfrage lautet, wie mit einer solch symbolisch hochaufgeladenen Landschaft umgegangen wird, wo Nutzung, Schutz, Eigentum und Besuch potentiell konfliktreicher sind als bei weniger bedeutungsvoller oder gar „neutraler“ Natur. Anders gefragt: Wem gehört die Tatra? Wer durfte und darf darüber bestimmen, wie das Gebirge aussieht und welche Visionen verwirklicht werden, bzw. wie werden verschiedene Interessen argumentiert und umgesetzt?
Meine These lautet, dass eben der Bedeutungsreichtum, den das Gebirge bis heute für Slowaken und Polen besitzt, immer eine Rolle spielte bei den Auseinandersetzungen um den Umgang mit dem Naturraum Tatra. Niemals handelte es sich um eine rein technische Manipulation der Natur, sondern immer ging es um den angemessenen Umgang mit einer besonderen Landschaft. Die Kontinuitäten über vielfache verschiedene politische und sozioökonomische Systeme hinweg sind eines der hervorstechendsten Merkmale im Umgang mit der Tatra von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute.
Weiter argumentiere ich, dass es notwendig ist, die gesamte Tatra zu betrachten und damit ihre materielle Beschaffenheit ernst zu nehmen, die nicht an der heutigen Staatsgrenze endet. Dadurch enthüllen sich zahlreiche Parallelen in der Beziehung der Menschen südlich und nördlich der Tatra zu den Bergen. Darüber hinaus existierte eine Bandbreite an grenzüberschreitendem Austausch vom Weiden der Schafe hin zur Verabschiedung eines binationalen Touristenabkommens, von Plänen für einen gemeinsamen Nationalpark bis zu bewaffneter Aggression. In dieser Perspektive stoßen beide nationalen Vereinnahmungen an ihre (geographischen) Grenzen und die bis heute vorherrschende Ansicht lediglich auf die Süd- oder die Nordseite, die ihr Ende an der staatlichen Demarkationslinie findet, macht einer Betrachtung des gesamten Gebirges Platz.
In der Vielfalt der Zuschreibungen für verschiedene Großgruppen, die sich niemals fein säuberlich voneinander trennen lassen, erscheint die Tatra als typische mitteleuropäische Landschaft. Dies zeigt sich in der Koexistenz vieler ethnischer, religiöser und sprachlicher Gruppen, dem imperialen Erbe und der späten Nationalstaatsbildung, der gewaltsamen Homogenisierung von Bevölkerung und Territorium, schließlich dem vielfachen Wechsel der politischen Ordnung. Dies alles spiegelte sich im Umgang mit der Tatra deutlich wider und formte das Gebirge, wie wir es heute vorfinden. |