Rebekka Sagelsdorff untersucht in ihrer Dissertation, wie Jugendliche ihre Lehre in einem Lehrbetriebsverbund, einem neuen Modell der beruflichen Grundbildung mit hohen Flexibilitätsanforderungen, bewältigen und welche sozialen Ungleichheiten sich dabei abzeichnen.
Lehrbetriebsverbünde haben sich in der Schweiz seit Ende der 1990er Jahre etabliert, unter anderem aufgrund der Förderung dieses Ausbildungsmodells durch das BBT (heute SBFI). Bei Lehrbetriebsverbünden handelt es sich um einen Zusammenschluss von mehreren Betrieben, welche gemeinsam Lernende ausbilden. Im Unterschied zur traditionellen einzelbetrieblichen Berufsbildung verbringen Lernende ihre Lehre nicht nur in einem Betrieb, sondern wechseln i.d.R. alle sechs bis zwölf Monate den Lehrbetrieb. Die Kooperation verschiedener Ausbildungsbetriebe soll einerseits zusätzliche Lehrstellen schaffen, andererseits soll sie die Qualität der beruflichen Ausbildung verbessern.
Ziel der Dissertation ist es, die Potentiale und Risiken von Lehrbetriebsverbünden für Lernende zu untersuchen. Die mehrfachen Betriebswechsel und die damit zusammenhängende komplexere Organisation der Betreuung stellen nämlich, wenn mit der Struktur der traditionellen dualen Lehre verglichen wird, erhöhte Anforderungen an Lernende bezüglich Flexibilität, Mobilität, Selbstorganisation und Eigenverantwortung. Es werden von ihnen in verstärktem Masse arbeitsmarktbezogenen Kompetenzen abverlangt, wie sie von Voß und Pongratz (2003) mit dem „Arbeitskraftunternehmer“ oder von Boltanski und Chiapello (2003) mit dem „Projektmenschen“ beschrieben werden.
Mit Referenz auf die bekannten Bildungsungleichheiten und den gesellschaftskritischen Ansatz von Bourdieu kann angenommen werden, dass genau diese Kompetenzen einem bildungsnahen Habitus entsprechen und deshalb das Risiko vorhanden ist, dass diese Ausbildungsform bei Jugendlichen aus bildungsfernen Milieus zu Überforderungen führt. Andererseits kann die Ausbildung in einem Lehrbetriebsverbund für Jugendliche aus bildungsfernen Milieus auch eine Chance sein, genau diese Schlüsselkompetenzen zu erwerben, die in der Regel einem bildungsnahen Habitus zugerechnet werden. Die Dissertation untersucht deshalb, ob die Ausbildung in Lehrbetriebsverbünden soziale Ungleichheiten abbauen kann oder die bekannten Bildungsungleichheiten nach sozialer Herkunft auch in dieser neuen Organisationsform von beruflicher Ausbildung reproduziert werden.
Das Forschungsdesign beruht auf einer multiplen Fallstudie mit KV-Lernenden verschiedener Lehrbetriebsverbünde. Die Dissertation entsteht im Rahmen des SNF-Projekts „Lehrbetriebsverbünde in der Praxis – Eine multiple Fallstudie zum Funktionieren und den Anforderungen einer neuen Organisationsform der betrieblichen Lehre aus Sicht verschiedener Akteure“ (http://www.bildungssoziologie.ch/lehrbetriebsverbuende/). |