Abstract |
Kulturelle und gesellschaftliche Zwänge des Gesundseins – am Beispiel des neueren Übergewichtsdiskurses
Eberhard Wolff
Beim Thema „Zwang und Gesundheit“ denkt man in der Regel zunächst an rechtliche Zwänge, etwa den Impfzwang bzw. eine klinische Zwangseinweisung oder eine gerichtlich angeordnete Zwangsernährung (z.B. Noack 2004), oder es kommen einem individuelle Zwänge aus psychologischer bzw. psychoanalytischer Sicht in den Sinn, wie sie sich im Begriff der „Zwanghaftigkeit“ einer Person spiegeln. In diesem Beitrag soll es dagegen um eine weitere Art von Zwängen gehen, nämlich kulturelle und gesellschaftliche Zwänge des Gesundseins.
Kulturelle und gesellschaftliche Zwänge des Gesundseins sind nicht einfach zu beschreiben, zu definieren, und sie werden auch sehr unterschiedlich gedeutet. Das macht sie für die Behandlung des Themas „Gesundheitszwänge“ aber sehr wertvoll, weil sie helfen, die Komplexität des Phänomens besser zu erkennen.
In einem möglichst weiten Verständnis des Begriffes können wir Zwang als eine Kraft gleich welcher Art und von woher auch immer kommend verstehen, welche die Freiheit der Wahl unter alternativen Handlungs- und Denkoptionen einschränkt. Im Lichte dieses abstrakt-absoluten Verständnisses von Zwang wird deutlich, dass wir auch Konventionen, Traditionen, Deutungsmodellen, Werthaltungen oder Gruppenphänomenen wie Moden und Bewegungen, sprich: kulturellen Faktoren, eine Kraft zuweisen können, die unser Verhalten beeinflusst und Handlungsalternativen einschränkt.
Der „kulturelle Blick“ kann zeigen, dass Gesundheitszwänge ein sehr komplexes Phänomen mit fließenden Übergängen und vielen Schattierungen darstellen. Solche Zwänge entstehen nicht aus dem Nichts, sie sind eingebettet in die Geschichte und die Konventionen unseres Zusammenlebens, ja sie sind ein Teil davon. Man macht es sich zu einfach, wenn man sie voreilig pathologisiert, d.h. nur in der Dimension eines individuellen oder kollektiven Krankheitsphänomens betrachtet. Man kann und darf sie mit guten Gründen kritisieren, aber man macht es sich auch zu einfach, sie nur als „böse“ anzusehen. Zwänge sind ein Teil dessen, worauf unsere individuellen Persönlichkeiten und unsere Gesellschaft als Ganzes aufbauen, und die Analyse solcher Zwänge bietet uns nicht zuletzt die Möglichkeit, Werte zu erkennen, auf denen unsere Gesellschaft fußt. |