Das Thema des Projektes bildet die Erforschung der gestischen Ausdrucksweise von Musik in ihrer systematischen und historischen Dimension. Untersucht werden soll, inwieweit verschiedene Diskurse über den Körper nicht nur das ästhetische Musikideal, sondern auch die Beschaffenheit der jeweils komponierten Werke verändert haben, in welcher Weise also der Wandel des Körperbildes vom 18. bis zum 21. Jahrhundert auf die mit ihm zusammenhängende Tonsprache Einfluss nahm.
Des Weiteren soll es darum gehen, historisch frühere Versuche einer beim Körper ansetzenden Deutung der Musik neu zu kontextualisieren und ihren Stellenwert für die jeweils benachbarte Kompositions- und Aufführungspraxis zu erörtern. In den Blick zu nehmen ist vor allem die Ausdruckstheorie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, und zwar vor dem Hintergrund der Frage, inwieweit die damals virulente Auffassung von der manifesten Körperlichkeit musikalischer Kunstwerke im Sinne "hörbarer Geberden" (Friedrich von Hausegger, Die Musik als Ausdruck, 1884) auf diese Kunstwerke selbst zurückwirkte, etwa in den Kompositionen der "Wiener Schule", und welche Konsequenzen sich daraus für die praktische Interpretation bis hin zur Gestik und Schlagtechnik des Dirigenten ergaben.
Das Projekt nimmt sich zum Ziel, die bis heute in der Musikwissenschaft einseitig favorisierten Methoden der Strukturanalyse und Hermeneutik um einen Ansatz zu bereichern, der die klingende Realisierung als akustische "Gebärde" nicht etwa ausblendet, sondern sie in historisch variablen Prägungen zu beleuchten versucht. Das sinnlich-körperliche Moment der Musik kommt zu seinem Recht, aber so, dass es der Geschichte keineswegs enthoben, sondern selbst als Gegenstand geschichtlicher Prozesse transparent gemacht wird.
Gemeinsame Veranstaltungen wie etwa die im Herbstsemester 2013 organisierte Ringvorlesung DirigentenBilder: Musikalische Gesten – verkörperte Musik flankieren drei größere Einzelprojekte, die in entsprechende Monographien (darunter zwei Doktorarbeiten) münden werden:
Arne Stollberg, Wandlungen musikalischer Gesten im 18. Jahrhundert (Arbeitstitel)
Im späten 18. Jahrhundert entstand eine Auffassung des Körpers als Medium "natürlichen Ausdrucks", die dem höfischen Gesellschaftsideal noch fremd war, aber bis heute ihre Gültigkeit bewahren konnte. Welche Folgen hatte dies für die Musik? Als Ausgangspunkt der Untersuchung sind die Gattung des Melodrams und andere Spielarten des Musiktheaters (Oper, Ballett) in den Blick zu nehmen, schließlich aber auch Werke der reinen Instrumentalmusik. Methodisch soll in interdisziplinärer Perspektive auf zeitgenössische Quellen zu Schauspielästhetik, Physiognomik und Pathognomik, aber auch auf medizinische Traktate rekurriert werden, um dieses von der Musikwissenschaft kaum je zur Kenntnis genommene Quellenmaterial für die analytische Betrachtung musikalischer Partituren sowie für die Rekonstruktion der an sie geknüpften Aufführungsmodalitäten nutzbar zu machen.
Florian Henri Besthorn, Die Bedeutung des Körpers in den Kompositionen Jörg Widmanns (Arbeitstitel)
Im Fokus der Untersuchungen des Werkkorpus des jungen deutschen Komponisten Jörg Widmann (*1973) soll seine Behandlung des menschlichen Körpers sowie der Klangkörper im Allgemeinen stehen. Ein Überblick über den kompositorischen Umgang mit dem Körper in den letzten 50 Jahren bildet einleitend das Fundament, welches zunächst einige bedeutende Werke in die ästhetischen Diskurse und Entwicklungen der Zeit einordnet. Ausgehend von diesen Überlegungen soll in einem zweiten Schritt der Körper in Widmanns "experimenteller Kammermusik" diskutiert werden, bevor die Ergebnisse anschließend auch an größer besetzte Werke heranzutragen sind.
Jana Weißenfeld, "Verkörperungen" – Zur Inszenierung der Dirigentenfigur im Konzertfilm (Arbeitstitel)
Das Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit der Inszenierung von "Körperlichkeit" in Bezug auf die Darstellung des Dirigenten und – im Kontrast dazu – des Orchesters in ausgewählten Konzertfilmen. Die Betrachtung von Verfilmungen musikalischer Werke vor allem aus dem Bereich der Sinfonik des 19. Jahrhunderts soll mit Hilfe des Begriffs der "Verkörperung" in Verbindung mit verschiedenen Konzepten der musikalischen Interpretation unter neuen Gesichtspunkten ein ästhetisches Spannungsfeld behandeln, in welchem sich geschichtlich virulente Oppositionen ergänzen und durchkreuzen: Postulate der "Werktreue" einerseits und konträr eingeforderter Interpreten-Subjektivität andererseits, wie sie sich als scheinbar unvereinbare und doch komplementäre Konzepte in vielen Konzertfilmen auch visuell zu manifestieren scheinen. |